Musik vor 1600 - 2016_sose_holzer
3. Juni 2016, 10:30 Uhr
Jun.-Prof. Dr. Irene Holzer
(Institut für Historische Musikwissenschaft, Universität Hamburg)

Die »Visitatio sepulchri« und die Aisthetik des Performativen

Zu Beginn des 12. Jahrhunderts werden im Umfeld der Reformbewegungen der Augustiner Chorherren Text und Melodie der liturgischen Feier der Visitatio sepulchri neu kompiliert. Im Gegensatz zu den ältesten Überlieferungen der szenischen Darstellung des Quem queritis-Dialogs – wie etwa in den Regularis Concordia (entspr. Typ I) dargestellt –, fügt die neugestaltete Visitatio Typ II der bekannten narrativen Abfolge der Gesänge ein weiteres Element hinzu: Die neu kompilierten Gesänge werden so subtil mit überlieferten Chorälen kombiniert, dass eine spezifische Modusgestaltung ausgemacht werden kann, welche die Typ II-Visitatio im allgemeinen charakterisiert. Diese zunächst simple tonale Markierung erhält zusätzliche Bedeutung, wenn sie mit der Abfolge von liturgischen Gesten, figuralen Bewegungen und der theologischen Deutung der szenischen Darstellung verglichen und enggeführt wird. Der Aspekt des Performativen eröffnet dabei neue Wege, um die vielerforschte Visitatio Sepulchri auf paläographischer, musiktheoretischer sowie analytischer Ebene neu zu bewerten und die Ergebnisse für eine Diskussion des Aisthetischen zu öffnen.