Musik vor 1600 - 2016_wise_seidel
20. Januar 2017, 15:30 Uhr
Marlen Seidel M. A.
(Institut für Musikwissenschaft Weimar-Jena)

›Rückständigkeit‹ als Kunstgriff?
Spätmittelalterliche Mehrstimmigkeit in Handschriften des deutschen Sprachraums

Mittelalterliche Mehrstimmigkeit aus dem deutschsprachigen Gebiet wird in der musikwissenschaftlichen Forschung bis heute mit Begriffen wie rückständig, retrospektiv, atavistisch, primitiv oder altertümlich belegt. Die Begrifflichkeiten beschreiben den Rückfall in alte Muster, den Verfall von Ideen, die sich doch bis dato zu einer Blüte entwickelt hatten (so beispielsweise die frankoflämische Vokalpolyphonie), bis hin zu peripheren Auswüchsen, die in Chorherrenstiften und Klöstern verschiedener Orden in die Liturgie integriert wurden. Mit den genannten Aspekten geht offensichtlich in der Forschung die Auffassung einher, dass sich Untersuchungen des Repertoires und deren Kontextualisierungen nur wenig lohnen. In meinem Vortrag sollen daher folgende Fragestellungen genauer beleuchtet werden: Was beschreiben die oben genannten Begriffe überhaupt? Von welchen Geschichtsbildern oder Modellen gehen sie aus? Wie kann man der spätmittelalterlichen Mehrstimmigkeit trotz ihrer Etikettierung mit dem Konstrukt der Rückständigkeit gerecht werden? Und welche Stilistiken sind den mehrstimmigen Gesängen eigentlich eigen?