Musik vor 1600 - 2017_wise_meyer
19. Januar 2018, 15:30 Uhr
Dr. Michael Meyer
(Institut für Musikwissenschaft, Universität Zürich)

Zahlhaftigkeit und Sprache im Werk und in der Rezeption Josquins

Die These der Erneuerung der Musik im Geiste des Renaissance-Humanismus, besonders im Geiste der Rhetorik, lässt gerne übersehen, dass das Komponieren mit Zahlen und mit ihm das platonisch-pythagoräische Erbe im 16. Jahrhundert durchaus noch aktuell waren, wenn auch unter veränderten Vorzeichen. Obwohl bereits Christian Kaden vor einer einseitigen Sichtweise gewarnt hat, wurde gerade das Verhältnis von zahlhaftem Komponieren und dem allgemeinen ästhetischen Wandel selten erforscht. Entsprechend soll das Referat die Diskussion um die Rolle bewusst zahlhaft organisiertem Komponierens im 16. Jahrhundert neu beleben helfen. Am Beispiel des Werks und der Rezeption von Josquin Desprez wird gezeigt, dass der Wille zu rhetorischem Ausdruck und zahlhaft-symbolische Organisation Hand in Hand gehen konnten, dass das pythagoreische Erbe also dem neuen Ausdrucksprinzip integriert werden konnte. Am fünfstimmigen »Salve regina« sowie am berühmten »Miserere« soll in einem ersten Schritt deutlich gemacht werden, dass kompieren mit Zahlen nicht als geheimniskrämerisch-hermetische Angelegenheit, sondern als Teil eines wirkungsästhetischen Kalküls analysiert werden kann, das sich offensichtlich und dezidiert an den Hörer richtet und sich somit als Parallelphänomen etwa zu Giovanni Battista Albertis Architekturtheorien verstehen lässt. In einem zweiten Schritt soll darauf hingewiesen werden, dass vergleichbare zahlhafte Konzepte auch für Josquins spektakuläres Nachleben von Bedeutung waren, und zwar anhand kurzer Einblicke in die deutschen und italienischen Kontext unter Berücksichtigung wenig bekannter Zeugnisse u.a. aus der Feder Philipp Melanchthons und Gioseffo Zarlinos.