Schon die Editoren von Orlando di Lassos Messen im Rahmen der Neuen Reihe sahen sich bei einigen Zyklen mit der Schwierigkeit einer eindeutigen Zuschreibung konfrontiert: Selbst wenn sich das Problem einer gesicherten Autorschaft von anonym überlieferten Werken bei Lasso aufgrund häufiger Parallelquellen als vergleichbar gering darstellte, verblieb doch ein Restbestand, der begründete Zweifel an seiner kompositorischen Urheberschaft bestehen ließ. Gerade das Phänomen der Mehrfachzuschreibung – die Überlieferung einer Komposition unter verschiedenen Namen beziehungsweise mit nachträglicher Tilgung und/oder Überschreibung eines ursprünglich angegebenen Komponistennamens in unterschiedlichen Handschriften und/oder Drucken – nötigte den Herausgebern eine Festlegung auf die eine oder andere Autorschaft ab. Bei der Entscheidungsfindung galt es, »anhand der Besonderheiten der Überlieferung jeweils die Zuweisung nachzuprüfen und neben dem diplomatischen Befund vor allem die Qualität der Musik selbst als Kriterium mit heranzuziehen.« Die Musikgeschichtsschreibung hat bereits mehrfach und in unterschiedlichen Kontexten unter Beweis gestellt, dass die ›Zuschreibung an‹ beziehungsweise die ›Abkehr von‹ einem bestimmten Komponisten anhand stilkritischer Untersuchungen stets ein wenig verlässliches und riskantes Analysemanöver ist, dass jederzeit durch neue, eindeutige Quellenfunde an seiner zwangsläufig nachfolgenden Kritik zu scheitern droht. In diesem Vortrag wird daher der Versuch unternommen, den Überlieferungsbefund der Mehrfachzuschreibung für einen neuen Interpretationskurs fruchtbar zu machen. Indem Traditionslinien im Münchner Messenrepertoire mit Blick auf die Textunterlegung, Tonarten und Mensurverhältnisse nachgezeichnet werden, kann ein Gattungsprofil von Lassos Kompositionsbeiträgen skizziert werden, das stets zwischen Konventionalität und Neuordnung vermittelt und gleichermaßen Stereotype wie deren Variationsmöglichkeiten vorgibt. Damit rücken die Organisationsmechanismen der Wittelsbacher Kantorei ins Blickfeld einer systemorientierten Untersuchung. Die personelle Aufstellung der Hofkapelle und die Repertoiregenese der bayerischen Hofkapelle sind vergleichbar mit den produktiven Bedingungen in den zahlreichen Malerwerkstätten der Renaissance und eröffnen neue Perspektiven auf Kompositionsprozesse im 16. Jahrhundert.