Musik vor 1600 - 210226_eberle_michael
26. Februar 2021, 12:30 Uhr
Michael Eberle
(Basel)

Der Sponsus und das narrative Ritual

Das Phänomen des sogenannten liturgischen Dramas, das im neunten Jahrhundert seinen Anfang nahm und besonders im zwölften Jahrhundert eine Blütephase der Produktivität und Erweiterung erlebte, wird in der interdisziplinären Forschung schon seit Ende des 19. Jahrhunderts diskutiert. Dabei lag der Fokus insbesondere der früheren Beiträge darauf, das liturgische Drama als aus dem Gottesdienst entwickelte frühe Theatergattung zu verstehen. Weniger aber wurde die rituelle Funktion der Texte erörtert – und wenn, dann meist ohne tiefergehende Betrachtung der Melodie. Dabei zeigt sich bei genauerer Untersuchung beispielsweise der Osterfeiern eine Fülle an Funktionen und ausschöpfbaren Potentialen: Textlich und musikalisch an die reguläre Liturgie angebunden, eröffnen sie als Tropus einen Raum im Gottesdienst, in welchem durch Visualisierung der gefeierten biblischen Erzählungen eben diese Narrative für die Gemeinde belebt werden und ihre Gemeinschaft im Bekenntnis stiften. Der essentielle Unterschied zwischen liturgischem Drama und regulärer Liturgie besteht dabei in der narrativen Anordnung der Handlungen, die im Gegensatz zur Messhandlung eine „Szene“ im weiteren Sinne entstehen lässt. Während die meisten Feiern, so vor allem die Osterfeiern, jedoch eine klare Verbindung zu Liturgie und theologischem Kontext des Kirchenjahres aufweisen, geben einige Stücke vor diesem Hintergrund in ihrer Hermeneutik Rätsel auf. Das bekannteste von ihnen mag der Sponsus sein, der in Handschrift F-Pbn lat. 1139 als Teil des aquitanischen Tropenrepertoires von St. Martial niedergeschrieben wurde. Zugrunde liegt das Gleichnis Jesu‘ von den klugen und törichten Jungfrauen (Mt 25, 1–13), das sich im Gegensatz zu den offensichtlichen Osterfeiern nicht unmittelbar in einen bestimmten liturgischen Kontext einbinden lässt. Das führte dazu, dass der Text als Beispiel für eine – wenn auch nicht abseits jeglicher zeremonieller Bedeutung – vom Gottesdienst gelöste Theaterform dargestellt wurde. Die rituelle Bewertung des liturgischen Dramas als Phänomen aber lässt an dieser Einordnung zweifeln, vor allem auch aufgrund der engen Beziehungen zur klar gottesdienstlich verordneten Osterfeier LOO 823 aus Vic. Daher soll im Kolloquiumsbeitrag eine neue Interpretation des Sponsus versucht werden. Dafür wird zuerst das Phänomen und die Hermeneutik des liturgischen Dramas als theatrales – oder besser narratives – Ritual in aller Kürze erläutert und dann für den Sponsus überprüft werden. Im Zentrum steht dabei die Frage nach ritueller Verortung und Funktion des Sponsus besonders im Hinblick auf die textlich-musikalischen Merkmale sowie die sich daraus ergebenden Probleme der performativen Umsetzung. Hierfür werden vereinzelt Aspekte aus der praktischen performativen Arbeit als Ergänzungen einbezogen, die einem Aufführungsprojekt im Kontext einer Kooperation von Schola Cantorum Basiliensis und Stadttheater Basel entsprangen. Ziel dessen wird vor allem die Neuüberlegung des Theatralen im liturgischen Drama sein. Der Beitrag soll also ein rituelles Verständnis des Sponsus als narrativ-theatraler Form von Gottesdienst untermauern und so einen neuen Zugang zu den nicht offensichtlich an die Liturgie angebundenen liturgischen Dramen anbieten.