Musik vor 1600 - 210226_schoening
26. Februar 2021, 11:00 Uhr
Kateryna Schöning
(Wien)

Die Tabulatur D-LEm I. 191 (1530-1540) aus der Sammlung von Carl Ferdinand Becker (1804–1877): bürgerliche Musikkulturen im Dialog

Im Vortrag wird zum ersten Mal die bis jetzt nicht erforschte Leipziger Tabulatur für Tasteninstrumente D-LEm, I.191 vorgestellt. Die Recherche zeigt, dass das Unikat sich audf das Ende der 1530er oder in die 1540er Jahre datieren lässt. Es stammt aus Mitteldeutschland (Ost, ev. Leipzig) und ist somit das einzige erhaltene Exemplar eines Tastenmusik-Notats im mitteldeutschen Raum vor dem Tabulatur-Druck von Elias Nicolaus Ammerbach (Leipzig, 1571). Die Handschrift bietet außerdem eine seltene Möglichkeit, bürgerliche bzw. städtische Schulpraxis in der Instrumentalmusik vor 1550 zu verfolgen. Das Manuskript wird zuerst im musikgeschichtlichen und aufführungspraktischen Kontext des 16. Jahrhunderts verortet: Die Tabulatur wurde noch im 16. Jahrhundert mit zwei Drucken von Martin Agricola – »Ein kurtz deudsche musica« [1528] und »Musica intrumentalis deudsch« 1529 – zusammengebunden. Sie ist ein Übungsheft zu damals bekannten instrumentalen Lehren (Agricola, Virdung, Schlick); zugleich transferiert und adaptiert sie die Erfahrung der Orgeltabulaturen von Kotter, Kleber, Buchner und Lublin. Es zeigt sich das Spezifikum des Manuskriptes D-LEm, I.191 als mitteldeutscher Quelle einerseits und der Transfer von südlichen Praktiken andererseits. Es werden Fragen zu sozialer Verortung der Tabulatur D-LEm, I.191 und ihrer Didaktik diskutiert: Welche Vorkenntnisse sollte der Schüler haben, um das Manuskript nutzen zu können? Auf welche Praktiken stützte sich der Schreiber selbst? Wie ging der Schreiber mit dem gedruckten Lehrbuch um? Weiterhin wird ein Blick in die Sammlung und die Schriften Carl Ferdinand Beckers geworfen, mit dem Ziel, die Rolle des Manuskripts D-LEm, I.191 in Beckers Sammlung aus der Perspektive des 19. Jahrhunderts zu klären.