Anders als für den Minnesang sind für den mittelhochdeutschen Sangspruch, der anderen Gattung liedhafter Sangverslyrik, mehr als 70 einstimmige Melodien in Quellen vor 1350 überliefert. Der mittelhochdeutsche Sangspruch wird sowohl inhaltlich als auch durch eine ihm eigene Kontrafakturpraxis vom Minnesang unterschieden. Inhaltlich umfasst er alles jenseits des Konzepts höfischer Liebe: etwa Gottes- und Marienpreis, Herrscherlob, sowie ethische und moralische Lehre. In seiner Produktion zeichnet sich der Sangspruch dadurch aus, dass seine Töne für eine Vielzahl in sich abgeschlossener Strophen wiederverwendet werden, die nicht zwingend in einem thematischen Zusammenhang stehen. Dieser Vortrag widmet sich sowohl Fragen nach der musikalischen Faktur der Melodien als auch nach dem formalen wie hermeneutischen Wechsel- und Zusammenspiel eines Tons und seinen Strophentexten. Da die Töne rund 30 Verfassernamen und -pseudonymen zugeordnet werden, ist neben gattungsbezogener Stilistik die Konstruktion individualisierter musikalischer Stile erwägenswert. Schließlich finden sich Momente, in denen über die musikalisch-künstlerische Praxis in den Strophen sogar explizit reflektiert wird.