Der mittelalterliche Codex bildet eine bedeutende Schnittstelle zwischen Theorie und Praxis des Gregorianischen Chorals, dessen Verschriftung einer vorherigen Durchdringung und Systematisierung bedurfte. Vor der Verschriftung stand damit ein Objektivierungsprozess des Gegenstandes. Unterschiede in Abschriften deuten auf ein musikalisches Konzept des Schreibers. Die möglichen Intentionen in der Wiederverfügbarmachung von Erinnerung an ein Repertoire und der Schaffung einer Kontrollinstanz für das zu Singende kann mitunter anhand von Einzelfällen ebenso eruiert werden wie eine weitreichendere konzeptuelle Rückbindung: Welche theoretischen Prozesse mögen der Anfertigung von Handschriften vorausgegangen sein? Welche derartigen Prozesse lassen sich in überlieferten Zeugnissen ablesen? Anhand von vier adiastematischen Handschriften unterschiedlicher Provenienz, die bislang von der Neumenforschung unbeachtet bleiben mussten, werden Rückschlüsse auf die musiktheoretischen Konzepte der Schreiber bzw. der Kantoren gezogen. Diese Handschriften der so genannten Berlinka-Sammlung waren während des Zweiten Weltkriegs ausgelagert worden, galten lange Zeit als verloren und sind unlängst wiedergefunden worden.